HT 2021: The (Post-)Ottoman Mediterranean: Struggles over Diversity between Imperial Aspirations and Local Affirmations, 1860–1960

HT 2021: The (Post-)Ottoman Mediterranean: Struggles over Diversity between Imperial Aspirations and Local Affirmations, 1860–1960

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Daniela Hettstedt, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Reflektieren Historikerinnen und Historiker heute über Kosmopolitismus, so meinen sie damit selten ein universales Weltbürgertum im Kant’schen Sinne. Als religiöse, ethnische und sprachliche Diversität gedacht, wird Kosmopolitismus vielmehr zu einer Analysekategorie, mit der sich das komplexe gesellschaftliche Gefüge des Osmanischen Reiches und insbesondere der Hafenstädte des Mittelmeerraums beschreiben lässt.1 Die von Esther Möller (München) und Malte Fuhrmann (Berlin) geleitete Sektion knüpfte somit an aktuelle Forschungsdebatten an. Ähnlich wie das seit 2017 aktive Forschungsnetzwerk der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) „Modern Mediterranean: Dynamics of a World Region 1800 / 2000“2, dem neben Möller und Fuhrmann auch die Sektionsteilnehmerin Jasmin Daam (Kassel) angehört, nahm auch die Sektion mit den Jahren 1860 bis 1960 einen relativ langen Zeitraum in den Blick.

Diese einhundert Jahre beschrieb ESTHER MÖLLER in ihrem einleitenden Statement als eine Phase, in welcher verschiedene historische Umbrüche die Mittelmeerregion prägten: die Balkankriege, die Auflösung des Osmanischen Reichs, die Etablierung des Mandatssystems durch den Völkerbund, die Staatsgründung Israels und die Dekolonisierung. Laut Möller hatten bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts unterschiedliche Ideen zum Umgang mit beziehungsweise der Handhabbarkeit von Diversität sowohl auf Seiten der Herrschenden als auch der Beherrschten in der Region existiert. Etablierte Meistererzählungen vom Gelingen und Scheitern eines solchen Unterfangens könnten allerdings nur durch eine quellenbasierte Forschung hinterfragt werden. Eine solche werde nicht nur von den Geschichtswissenschaften, sondern auch von den Area Studies, den Islamwissenschaften und den Südosteuropastudien geleistet. Die Leitfrage der auf diese Weise interdisziplinär gerahmten Sektion lautete: Inwiefern konkurrierte gerade die Handlungsmacht (agency) spezifischer historischer Akteure mit der Diversität des (post-)ostmanischen Mittelmeers?

Eine solche Diversität identifizierte MALTE FUHRMANN im Folgenden als das zentrale Element der Stadtgesellschaften in den Hafenstädten des östlichen Mittelmeerraums wie beispielsweise Alexandria, Smyrna (das heutige Izmir), Istanbul und Thessaloniki. Diversität, damit meinte Fuhrmann nicht etwa städtische Promenaden, Kaffeehäuser und Salons, also schlicht den Ausdruck eines bürgerlichen Habitus. Vielmehr verwies er auf einen darüber hinaus gehenden Kosmopolitismus, also mit François Georgeon und Paul Dumont gesprochen, auf den Austausch zwischen verschiedenen kulturellen Gruppen und Interessengemeinschaften über ethnische Grenzen hinweg.3 Ein solcher Kosmopolitismus sei im Kontext des Osmanischen Reiches zwar ein Kennzeichen des Imperialismus gewesen, seine Auflösung, sprich also die Homogenisierung von Gesellschaften im Rahmen von Nationsbildungsprozessen, sei aber stets erzwungen gewesen und daher heute Gegenstand von Nostalgie. Wie Fuhrmann aufzeigte, variierten nicht nur die Definitionen von Kosmopolitismus in der Geistesgeschichte wie etwa bei Kant und Nietzsche, sondern auch die Formen kosmopolitischer Gesellschaften und ihrer Einbettung in staatliche Herrschaft: So erhielten in den 1850er- und 1860er-Jahren in Istanbul auch Ausländer das Wahlrecht; Smyrna entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Beispiel städtischer Selbstverwaltung; französischsprachige Zeitungen aus Thessaloniki von Anfang des 20. Jahrhunderts zeugten von Schulbällen, Theaterveranstaltungen und religiösen Festen als gesellschaftliche Begegnungsorte.

Die häufig nur abstrakt benannte Durchlässigkeit kultureller, religiöser und ethnischer Grenzen in jenen (Hafenstadt-)Gesellschaften visualisierte Fuhrmann am Schluss seiner Präsentation ganz konkret anhand historischer Fotografien zur Veranschaulichung von Kleidungsstilen, Architektur und Infrastrukturen. Demnach handle es sich bei „Kosmopolitismus“ nicht nur um eine Analysekategorie der heutigen Forschung, sondern um das zentrale Element einer ansonsten schwer greifbaren levantinischen Identität, welche die historischen Akteure im Alltag auslebten und die sich in das jeweilige Stadtbild einschrieb. Wer sich nochmals von der unglaublichen Detailkenntnis des Vortragenden überzeugen und seine hier nur kurz skizzierten Untersuchungsbeispiele in einen größeren kulturhistorischen Kontext der Region eingeordnet sehen möchte, der sei auf Fuhrmanns 2020 erschienene Monographie „Port Cities of the Eastern Mediterranean“4 verwiesen, auf welcher dieser Vortrag aufbaute.

Anders als Fuhrmann diskutierte EYAL GINIO (Jerusalem) in seinem Paper die Geschichte einer einzigen, im Hinterland gelegenen Kleinstadt. In Dimetoka, dem heute auf griechischem Staatsgebiet an der türkischen Grenze gelegenen Didymoticho, publizierte im März 1914 die Tageszeitung „La voz dela verdad“ einen Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte und Institutionen. Da das Osmanische Reich zu diesem Zeitpunkt keine Restriktionen gegen die jüdische Bevölkerung verfolgte, bildete der Boykott laut Ginio eine Ausnahme vom etablierten Narrativ der Balkankriege. Was waren seine Gründe? In einem ersten Teil des Vortrags erläuterte Ginio zunächst die Entwicklung der Stadt und Region Dimetoka als ein Zentrum der Seidenindustrie. Anhand von Jahrbüchern zeichnete Ginio das Bild einer in ihrer Zusammensetzung äußerst heterogenen Stadtbevölkerung, bestehend aus Griechen, Bulgaren und Armeniern, griechisch-orthodoxen Christen, Muslimen und Juden, um die Jahrhundertwende. Infolge des ersten Balkankriegs (Oktober 1912–Mai 1913) sei die Stadt von bulgarischen Truppen besetzt, im zweiten Balkankrieg (Juli 1913) aber wieder unter osmanische Kontrolle gebracht worden, was mit der Ausweisung bulgarischer Flüchtlinge aus der Provinz einherging.

Im zweiten Teil seiner Präsentation legte Ginio schließlich die lokalpolitischen Gründe für den Boykott dar. Seit 1910 habe die jüdische Gemeinde den Neubau ihrer Schule auf einem Grundstück außerhalb des jüdischen Viertels (Pazar-I Beyli) im Stadtzentrum geplant. Diese Neuverortung einer jüdischen Institution im muslimischen Viertel Cizyedar und der Verkauf eines Grundstücks aus dem Besitz der muslimischen Gemeinde (wharf) an die jüdische Community sei von den dortigen Anwohnern abgelehnt worden. Kurz vor Beginn des ersten Balkankriegs habe die osmanische Verwaltung, genauer das Ministerium für religiöse Angelegenheiten, aber Zugunsten der jüdischen Gemeinde entschieden. Dieser Konflikt habe sich nach Kriegsende erneut verschärft und mit dem Boykottaufruf seinen Höhepunkt erreicht. Leider verpasste es der Vortragende, dieses spannende Beispiel für die (möglicherweise gescheiterte) Aushandlung von Diversität auf die Fragestellung der Sektion hin genauer auszudeuten und somit stärker zu abstrahieren. Interessierte können es in Ginios bereits 2016 publizierter Studie „The Ottoman Culture of Defeat“5 nachlesen.

Anschließend diskutierte JASMIN DAAM, wie die Tourismusindustrie mit unterschiedlichen Vorstellungen von Diversität in Palästina umging. In der Zeit des Völkerbundmandats (1920–1948) nutzten lokale Akteure laut Daam den Tourismus als Möglichkeit, einem globalen Publikum ihre Vorstellungen von Palästina zu vermitteln. In der Hochzeit des Tourismusaufkommens, Ende der 1920er- bis Mitte der 1930er-Jahre, seien jährlich bis zu 90.000 Reisende in das Mandatsgebiet gekommen. Im Jahr 1930 habe „The Palestine Bulletin“ berichtet, britische und französische Touristen seien enttäuscht über die Modernität des Landes, da sie jene als nicht authentisch empfänden. Nicht authentisch, das bedeutete nach der Einschätzung Daams, dass die Reisenden orientalistische Stereotypen nicht bestätigt fanden. Im Folgenden verglich die Vortragende Reiseführer, die jeweils von zionistischen und arabischen Institutionen herausgegeben worden waren. Im „Guide to New Palestine“, den das „Zionist Information Bureau for Tourists in Palestine“ erstmals 1923 publizierte, hätten Autoren das Land unter Verweis auf die Kontinuität einer bis in die Antike zurückreichenden jüdischen Geschichte als Kernregion einer kulturellen, sozialen und ökonomischen Modernisierung präsentiert. Laut Daam erfüllte der „Guide to New Palestine“ zwei Funktionen: Erstens machte er die Reisenden zu Zeugen jener historisch legitimierten Modernisierungsprozesse; zweitens versorgte er zukünftige Siedler und Investoren mit praktischen Informationen. Der Reiseführer zeige somit weniger den Zustand als vielmehr die Vision eines zukünftigen Palästinas.

In Konkurrenz dazu habe das Informationsmaterial der arabisch-palästinensischen „Tourist Development Association“ gestanden, welches aber eine weitaus geringere Verbreitung erreicht habe. Dem „Guide to New Palestine“ stellte Daam einen 1935 erschienenen Reiseführer für Jerusalem gegenüber. Anders als das von zionistischen Institutionen herausgegebene Material präsentiere der arabische Reisführer nicht die historische Landschaft, sondern die muslimischen Stätten als touristische Hauptattraktionen. Religiöse Sehenswürdigkeiten wie der Tempelberg mit der al-Aqsa-Moschee wurden laut Daam somit zu Symbolen eines arabischen Palästinas als das Zentrum eines globalen Islam. In der Diskussion verwies sie auf die Schwierigkeit, die Kategorie der Reisenden, an die sich die Reiseführer richteten, in (Vergnügungs-)Touristen, Pilger und Geschäftsleute zu diversifizieren. Insgesamt gelang es ihr, anhand dieser Beispiele die konkurrierenden Perspektiven und politischen Strategien zionistischer und arabischer Autoren aufzuzeigen.

Die Konkurrenz unterschiedlicher lokaler Akteursgruppen stand ebenfalls im Zentrum von ESTHER MÖLLERs Vortrag. In drei chronologischen Schritten stellte sie die Geschichte der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung in Ägypten und dem Libanon zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem Palästinakrieg 1948 vor. Erstens erläuterte sie die Gründung von Hilfsorganisationen im kolonialen Kontext. In Ägypten und im Libanon seien die Gründer der libanesischen Vertretungen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) positiv gegenüber dem französischen Mandatssystem (1919–1943) eingestellt gewesen. In Abgrenzung zum Roten Kreuz habe dagegen Shaykh 'Aly Yussif im Jahr 1912 den ägyptischen Roten Halbmond gegründet. Anerkannt worden seien diese lokalen Organisationen durch das IKRK aber erst nach Ende der Kolonialzeit, der ägyptische Rote Halbmond 1923 und das libanesische Rote Kreuz 1948.

Zweitens diskutierte Möller die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Entgegen des etablierten Narrativs, humanitäre Hilfe sei von Europa in den Rest der Welt geflossen, habe der ägyptische Rote Halbmond Hilfspakete an muslimische Kriegsgefangene in Europa verschickt. Außerdem habe er in Alexandria den Anspruch auf die alleinige Durchführung der Armenfürsorge erhoben und somit kosmopolitische Strukturen zugunsten der Forderung nach Selbstbestimmung eingeschränkt. Während internationaler Krisen hätten die libanesischen und ägyptischen Organisationen überdies eng mit den jeweiligen Regierungen zusammengearbeitet, um die Hilfe für Binnenflüchtlinge zu koordinieren.

Drittens ging Möller auf den Palästinakrieg ein, anlässlich dessen arabische Hilfsorganisationen erstmals in der Region tätig wurden. In diesem Kontext wurde das ambivalente Verhältnis zwischen dem Zentralbüro des IKRK in Genf und den lokalen Organisationen deutlich. Nicht nur sei das IKRK gegenüber dem ägyptischen Roten Halbmond äußerst kritisch eingestellt gewesen, jener habe die Kommunikation mit Genf ganz einstellt und die alleinige Zuständigkeit für die palästinensischen Flüchtlinge beansprucht. Dahingegen habe das IKRK das libanesische Rote Kreuz stärker geduldet, da jenes von christlichen Mitgliedern geleitet worden sei. Die ägyptische und die libanesische Organisation hätten indes miteinander kooperiert und konkurriert, also bis in die 1960er-Jahre gemeinsame und eigenständige Hilfsaktionen durchgeführt. Wie Möller resümierte, wurden in der östlichen Mittelmeerregion im Rahmen von Hilfsorganisationen unterschiedliche Forderungen nach nationaler Souveränität ausgehandelt. Tatsächlich schließt Möller mit ihrer Arbeit eine immense Forschungslücke in der Geschichte von Hilfsorganisationen in Ägypten und dem Libanon vor 1923 respektive 1948. Die Fachcommunity kann sich daher auf die Publikation ihrer kürzlich abgeschlossenen Habilitationsschrift freuen.

Insgesamt nutzten die Vortragenden mehrheitlich die Sektion, um ihre jüngsten Forschungsergebnisse vorzustellen. Mit dem Zuschnitt des Panels auf das östliche Mittelmeer gelang es, der häufig geäußerten Forderung nachzukommen, die nordafrikanischen Mittelmeeranrainer einzubeziehen. Die große Vielfalt der Vortragsthemen zeigte auf, dass es sich lohnt, neben Hafenstädten auch Binnenstädte, Tourismus und Hilfsorganisationen als Verhandlungsräume von Diversität zu analysieren. Obwohl die (verständliche) Begeisterung der Vortragenden für ihre Themen zulasten des Zeitmanagements ging, wurde deutlich, dass die agency einzelner Akteursgruppen gerade im Kontext der Dekolonialisierung in Konkurrenz zur Diversität stand und die Nationsbildungen häufig das Ende kosmopolitischer Gesellschaftsstrukturen bedeuteten.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Esther Möller (München) / Malte Fuhrmann (Berlin)

Malte Fuhrmann: Mediterranean Cosmopolitanism: Hollow Construct or Model for the 21st Century?

Eyal Ginio (Jerusalem): Boycott and Exclusion: Challenging Communal Boundaries in Late Ottoman Dimetoka (Didymoteicho)

Jasmin Daam (Kassel): Mapping Nations: History, Modernity, and Space in the Mediterranean Tourism, 1920s–1930s

Raed Bader (Ramallah): The Afro-Palestinian Community of Jerusalem: Challenges of Integration in a Transforming World (1860–1960) (musste leider entfallen)

Esther Möller: Claiming Arab Sovereignty in the Mediterranean. Egyptian and Lebanese Relief in the Period of Decolonization

Anmerkungen:
1 Exemplarisch vgl.: Ulrike Freitag / Nora Lafi, Cosmopolitanism and Conflicts. Changes and Challenges in Ottoman Urban Governance, in: Dies. (Hrsg.), Urban Governance Under the Ottomans. Between Cosmopolitanism and Conflict, Abingdon 2014, S. 1–17.
2https://modernmediterranean.net/ (10.11.2021).
3 François Georgeon / Paul Dumont (Hrsg.), Vivre dans l’Empire ottoman. Sociabilités et relations intercommunautaires (XVIIIe–XXe siècles), Paris 1997.
4 Malte Fuhrmann, Port Cities of the Eastern Mediterranean. Urban Culture in the Late Ottoman Empire, Cambridge 2020.
5 Eyal Ginio, The Ottoman Culture of Defeat. The Balkan Wars and their Aftermath, Oxford 2016.